Gibt es wirklich irgendwen, der Schäfchen zählt, wenn er nicht einschlafen kann? Was soll das? Wo kommt das her?
Wieso können es keine Planierraupen sein? Kullernde Raben. Einstürzende Neubauten. Autos, die der Zentrifugalkraft erliegen.
Als wäre Schlaflosigkeit etwas niedliches, das durch flauschige Schäfchen noch niedlicher gemacht werden könnte.
„Du liegst seit sechs Stunden wach, 10.245 Schäfchen, 10.246 Schäfchen, 10.247 Schäfchen.“
Er konnte gar nicht so weit zählen, wie er schlaflos war.
Das waren insgesamt viel zu viele Gedanken, die schon vor dem Aufstehen stattgefunden hatten. Selbst für einen geübten Denker wie ihn.
Irgendwie dachte er immer. Selbst wenn er schlief. Schlafen hieß auch nur Denken im Dunkeln. Mit etwas mehr Grusel und fliegenden Autos.
„Aufstehen, es wird ein herrlicher Tag. Das Glück sitzt auf deinen Schultern und hat einen flotten Hut auf.“
Sein Mantra, das ihn davon überzeugen sollte, das Denken im Hellen fortzusetzen, klang letztlich nur wie ein Lebensratgeber, den ein nicht ganz überzeugter, latent depressiver Horoskopeschreiber dahingeschludert hatte.
„Im September geht es mit der Liebe steil bergauf. Saturn sorgt für gehörig Trubel.“
Nein, tat er nicht. Saturn hatte scheinbar anderes zu tun.
Was war es denn schon, dieses Leben? Leben bedeutete Leben üben. Ohne, dass er dafür jemals einen Pokal bekommen würde. Wie damals bei den Bundesjugendspielen: eine Urkunde über die Teilnahme.
Wie konnten andere Menschen das so gut können? Das Leben.
Mit einer Leichtigkeit, für die Ballerinas töten würden.
Es gelang ihnen einfach. Sie standen ihn immer, den Handstandüberschlag, der dieses Dasein war.
Wo hatten sie das gelernt? Hatte er irgendwann einmal nicht aufgepasst, als verkündet worden war, wie das alles funktionierte?
Wenn es einen Leistungskurs Leben gegeben hatte, hatte er nicht einmal den Grundkurs besucht. Aber es sagte ihm einfach nichts, das Leben. Es blieb stumm. Fast so, als wäre es beleidigt, dass er anwesend war. Es schmollte, ob seiner Existenz.
Seine größte Angst war, dass er irgendwann merken würde, alles verpasst zu haben und nichts mehr aufholen zu können.
Wie zu spät auf eine Party zu kommen und es niemals mehr auf den Pegel der anderen zu schaffen. Das Lachen nur zu simulieren, um insgesamt nicht ganz so abwegig zu sein.
Aber es war einfach zu spät.
Er atmete tief ein und machte die Augen auf. Sein Blick fiel auf den Meerschweinchenkäfig, der gegenüber seinem Bett stand. In ihm wohnten Wim und Wenders, zwei durch und durch uninteressante Meerschweinchen. Was möglicherweise auf alle Meerschweinchen dieser Erde zutraf. Meerschweinchen waren noch sinnloser als schlechter Käse. Aber es gab sowohl schlechten Käse als auch Meerschweinchen. Insofern musste ein tieferer Sinn dahinterstecken.
Aber ihre Belanglosigkeit und Doofheit war eine schöne und routinierte Alltäglichkeit, die manche Tage etwas mehr nach Keks als nach Rosenkohl schmecken ließen.
Just in diesem Moment hielt die Traurigkeit neben seinem Bett und hupte. Stören konnte sie ziemlich gut. Sie stieg aus, legte sich neben ihn ins Bett und kuschelte sich an ihn.
„Na? Ganz alleine hier? Hihi…natürlich.“
Er wäre so gerne für irgendjemanden besonders gewesen. Der Grund zu oft auf das Handy zu schauen, ein entrücktes Lächeln beim Erinnern oder das Abschweifen während eines Gesprächs. Er war nichts davon. Er war der Max Mustermann unter den Gefühlsregungen der anderen. Irgendwie da. Aber ohne Bedeutung.
Eine Selbstverständlichkeit, wie Toast zum Frühstück.
Er fiel nur auf, wenn er lästig war.
Er kam sich oft lästig vor. Zu viel. Von allem.
Er versuchte, leiser zu atmen, zu gehen und zu stehen. Als wäre er nicht da. Damit man ihn endlich vollends vergessen könnte. Wie Wahrscheinlichkeitsrechnung. Oder alle Knoten, die man im Segelkurs gelernt hatte.
Er war so egal, dass er sich selbst oft nicht erinnerte, was er eigentlich am Vortag gemacht hatte.
Wieso existierte man, wenn man doch so egal war?
Musste es Lückenfüller geben, damit die anderen Menschen stabil genug leben konnten?
War das der Sinn? Das Zusammenbrechen der fragilen Ordnung verhindern?
Jemand, der anscheinend so weise, wie sein Haar grau gewesen war, hatte einmal zu ihm gesagt, dass irgendwann jemand kommen und ihn erkennen werde. Und er hatte sich gedacht: Erkennen, wie man Krebs erkennt? Was soll daran gut sein?
Sein Gegenüber hatte bedeutungsschwer gelächelt und sich dann wieder seinen üppigen Begleitung hingegeben. Die Poesie von Kneipenbekanntschaften. Zweifelhafter als Phishing-Mails. Aber zumeist ebenso unterhaltsam.
Das Erkennen…bisher wuchs es auf jeden Fall im Verborgenen. Wie Krebs das eben so tut. Bis es zu spät ist.
Er war zu sehr in sich selbst versunken. Sein eigener Sumpf, aus dem es kein Entkommen gab.
Und mit jedem Strampeln zog es ihn ein wenig weiter in die Tiefe.
Irgendwann würde er an sich ersticken. Manchmal ließ er zuhause das Licht an, um das Gefühl zu haben, jemand würde auf ihn warten, wenn er abends heim kam und von außen auf die Fenster seiner Wohnung blickte.
Behände wie ein Stolpern beim Bodenturnen stand er auf.
Dabei fiel das Glück von seinen Schultern. Er hätte es vorher warnen müssen, dass er ein Erheben plante. Sein Fehler.
„Das tut mir leid. Ich hatte dich ganz vergessen.“
Das Glück schnaufte.
„Mein Knöchel tut weh. Wahrscheinlich gebrochen. So kann ich nicht arbeiten.“
„Und jetzt?“
„Nichts. Ich bleibe liegen und werde den ganzen Tag tindern.“
„Seit wann hat man als Glück an sich ein Handy?“
„Seit Aluhüte in der Damenmode angekommen sind und Donald Trump Präsident ist, Opfer.“
Das Glück war eindeutig ziemlich sauer. Der Tag war beschissen. Und er hatte noch nicht mal das Schlafzimmer verlassen.
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